Geschichte des Qorāns, Theodor Nöldeke
1. Das Aufbewahren der Niederschriften der Offenbarungen zu Lebzeiten Muhammeds
auf Grund qorānischer Andeutungen und des literarischen
Zustandes der Suren.
Die zahlreichen Einzeloffenbarungen, aus denen die Heilige Schrift des Islam besteht, gehen nach vielfachen, in ihnen selbst enthaltenen Andeutungen auf ein im Himmel bewahrtes Buch zurück, und zwar in genauer Wiedergabe, während die Bibel der Christen und Juden zwar demselben Archetypus entstammt, aber starke Entstellungen erlitten hat. Auch verschiedene Namen der Offenbarung wie qur’än ), kitāb und wahj ) lassen einen schriftlichen Hintergrund durchschimmern. Bei diesem Sachverhalt wäre es unbegreiflich, wenn Muhammed nicht schon sehr früh die Schaffung einer neuen Offenbarungsurkunde sowie ihre schriftliche Fixierung ins Auge gefaßt hätte ). So ist bereits in dem mekkanischen Verse Sur. 29, 47 auf das
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Niederschreiben der Offenbarungen angespielt. Die Tradition sagt es ganz ausdrücklich und verzeichnet auch die Namen der Personen, denen der Prophet Offenbarungen in die Feder zu diktieren pflegte ). Über die Einzelheiten des Verfahrens, über Aufbewahrung und Ordnung des Materiales haben wir keine zuverlässigen Nachrichten ). Nach Lamm- ens ) ließ sich Muhammed in Sure 75, 16—47 von Allah den Rat geben, die Herausgabe des Qorāns als besondere Sammlung nicht zu übereilen, damit es ihm frei stände, in Gemütsruhe an dem Text zu ändern. Aber diese Auslegung ist verfehlt. Vielmehr kann sich nach dem Zusammenhang das Übereilen nur auf eigenmächtiges Urteilen des Propheten beziehen, mit dem er zurück-halten soll, bis ihm eine entsprechende Offenbarung vollständig vorgetragen worden sei. Ähnlich verbietet Sure 20,113 einen Qorān zu rezitieren, bevor seine Offenbarung beendigt ist. Doch läßt die literarische Analyse der erhaltenen Suren erkennen, daß Muhammed selbst schon zuweilen Einzelqorāne zu größeren Ganzen vereinigt oder sehr kunstvolle literarische Kompositionen als Erträgnisse einmaliger und einheitlicher Offenbarungsakte betrachtet wissen wollte.
Auch erschwert es die homiletische Anlage der meisten Suren außerordentlich, in das Geheimnis der Komposition einzudringen und ein Urteil darüber abzugeben, bis zu welchem Grade die Vereinigung von Einzeloffenbarungen verschiedener Herkunft in einer Sure dem Propheten selbst oder nur späteren Redaktoren zuzutrauen ist. Mit annähernder Sicherheit läßt sich literarische Einheit bei größeren Suren nur da verfechten, wo Gleichheit oder Gleichartigkeit des Inhaltes vorliegt wie bei den Suren 12 und 18, oder wo sich ein Refrain wie ein roter Faden durch das Ganze hindurchzieht wie bei den Suren 26, 56, 70 und 77, oder wo Stil, Reim und Rhythmus eine so große Übereinstimmung zeigen wie bei Sure 37. Viel zweifelhafter ist die Sache schon bei den Suren 17, 41 und 7. Vollends
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bei den Suren 2, 8, 63, 4 und 9 ist jede Entscheidung ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls kann keine der genannten Suren beanspruchen, ohne Zuhilfenahme von Aufzeichnungen zustande gekommen zu sein.
Dasselbe möchte ich auch da annehmen, wo Muhammed in Medina frühere Offenbarungen durch kleinere Hinzufügungen oder Einschaltungen erweitert ), oder gar durch einen neuen Text von abweichendem Inhalte ersetzt oder aufgehoben hat ). Das war ein Mittel, um die Kette, die er durch die schriftlich fixierten Offenbarungen seiner prophetischen Freiheit unvorsichtiger Weise um den Hals gelegt hatte, etwas zu lockern.
Dagegen erheischen die zahlreichen in der Luft schwebenden Verse und die fragmentarischen Versgruppen, die entweder in Suren eingebettet sind oder jetzt im letzten Teil der kanonischen Ausgabe zusammenstehen, eine besondere Erklärung. So großen Wert Muhammed auch auf das Niederschreiben legte, allzu große Vollständigkeit und archivalische Treue darf man doch nicht erwarten, am wenigsten in Mekka, wo er um seine Anerkennung als Gottgesandter noch auf Tod und Leben zu ringen hatte. Unter dem Zwange äußerer Umstände wird die Aufzeichnungen, selbst wenn sie beabsichtigt war, mehr als einmal unterblieben sein. Aber in der, frühsten Zeit blieb wohl alles dem Gedächtnis überlassen, das den Propheten jedoch zuweilen im Stiche ließ. So tröstet er die Gläubigen Sur. 2, 100 damit,
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daß ihnen Allah für jeden in Vergessenheit geratenen Vers einen ähnlichen oder noch besseren schenke.
Außer den von Muhammed selbst veranlaßten Niederschriften gab es wahrscheinlich auch solche kleineren wie größeren Umfanges, die eifrige Anhänger seiner Lehre selbst angefertigt oder in Auftrag gegeben hatten. Danebenher geht die gedächtnismäßige Bewahrung, die für eine Zeit, in der Lesen und Schreiben noch eine seltene Kunst war, von größter Bedeutung sein mußte. Abgesehen von der gewiß nicht geringen Zahl von Genossen, die kleinere Qorānstücke auswendig wußten, soweit dies für die Gebetsliturgie notwendig ) war, gab es einzelne Personen, die ihrem Gedächtnis größere Abschnitte eingeprägt hatten, so daß sie dieselben mit der Treue eines Buches wiedergeben und dadurch manche Offenbarung, deren Text nicht aufgezeichnet oder verloren gegangen war, vor gänzlichem Untergange bewahren konnten.
So lange der Prophet auf Erden weilte, befand sich die Offenbarung in stetem Flusse. Nachdem aber durch seinen Tod dieser Strom plötzlich versiegt war ), mußte entsprechend der prinzipiellen Bedeutung, welche die himmlischen Offenbarungstexte für die neue Religion hatten, innerhalb der Gemeinde sich früher oder später das Bedürfnis regen, das ganze Material in zuverlässiger Form beisammen zu haben.
Das Verdienst an dieser Sammlung des Qorāns schreibt die Überlieferung mit bemerkenswerter Einhelligkeit den drei ersten Chalifen zu ). Hierüber gibt es eine beträchtliche Zahl älterer und jüngerer Traditionen. Wenn viele derselben auch in wesentlichen Zügen übereinstimmen, so gehen sie doch in wichtigen Einzelheiten wieder auseinander. Da bei Quellen, die so wichtige Angelegenheiten der Religion zum Gegenstande
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haben, von vornherein der Verdacht tendenziöser Färbung vorliegt, müssen wir an die übereinstimmenden Angaben mit derselben Vorsicht herantreten, wie an die widersprechenden. Durch eine in diesem Sinne vorgehende Untersuchung in Verbindung mit sorgfältiger Berücksichtigung der uns erhaltenen Gestalt des Qorāns, als des Endresultates der Entwickelung und eigentlich des einzigen unbedingt sicheren Anhaltspunktes, ist es aber vielleicht doch noch möglich, der Wahrheit näher zu kommen.
2. Die uneigentlichen Qorānsammler oder die gedäichtnismäBigen Bewahrer der Offenbarung.
Daß der Qorān zu Lebzeiten des Propheten noch nicht vollständig gesammelt gewesen sein kann, versteht sich von selbst, da ja der Gottgesandte plötzlich und unerwartet vom irdischen Schauplatz abberufen wurde. Wenn eine auf Zaid b. Tābit zurückgeführte Tradition ) behauptet, daß der Qorān damals ganz und gar nicht gesammelt war, so liegt dem eine andere Vorstellung zugrunde, die an den Nachrichten über das Zustandekommen der Ausgabe Abū Bekrs ) orientiert ist. Danach hat dieser Chalife die Offenbarungen zerstreut und verzettelt oder, wie Sujūtī erläuternd hinzufügt, weder an einem Orte vereinigt, noch nach Suren geordnet vorgefunden. Diese Auffassung stimmt jedoch nicht ganz zu den Ergebnissen des vorigen Kapitels, denen zufolge es schon damals nicht allein Suren gab, die von vornherein als literarische Einheiten verfaßt waren, sondern auch solche, die Muhammed selbst nachträglich aus Stücken verschiedener Herkunft zusammengeschweißt hatte.
Während die Entscheidung dieser Streitfrage zurückgestellt werden muß, bis die Untersuchung über die Qorānausgabe Abū Bekrs abgeschlossen ist, kann ein anderer merkwürdiger Widerspruch mit der herrschenden Ansicht schon jetzt aufgeklärt werden. Es gibt nämlich nicht wenig Traditionen, die ganz
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harmlos und ohne eine Spur von Polemik gegen abweichende Ansichten eine ganze Reihe von Personen namhaft machen, die den Qorān zu Lebzeiten des Propheten gesammelt haben sollen. Ibn Sa'd widmet diesem Gegenstand sogar ein besonderes Kapitel ), obschon er an anderen Stellen seines Werkes die ersten Chalifen als die ersten Veranstalter von Qorānausgaben bezeichnet. Unter diesen Umständen kann kaum ein Zweifel bestehen, daß es mit jenen Traditionen eine besondere Bewandtnis hat. In der Tat bezieht sich die dort gebrauchte Phrase gama'a ’l-qurāna nicht auf die Vereinigung der zerstreuten Offenbarungen in einem Buche, sondern, wie schon die mohammedanischen Autoritäten der Hadīt-Interpretation erkannt haben, um das Bewahren im Gedächtnisse ). Bei dieser. Auffassung muß es natürlich dahingestellt bleiben, ob die einzelnen „Sammler“ wirklich die ganze Offenbarung oder größere Teile derselben im Kopfe batten. Wie wir später noch sehen werden, ist das Auswendigwissen der heiligen Texte zu allen Zeiten die Hauptsache gewesen, die schriftliche Fortpflanzung der Offenbarung wurde immer nur als Mittel zum Zwecke betrachtet.
Nicht nur über die Zahl, sondern auch über die Namen dieser sog. Sammler gehen die Meinungen der einzelnen Traditionen sehr auseinander. Am häufigsten findet man folgende
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vier zusammen genannt ): Ubai b. Ka'b, Mu'ād b. Gabal, Zaid b. Tābit und Abū Zaid al-Ansārī. In den zahlreichen Varianten dieser Tradition tauchen noch viele neue Namen auf, wie Abū 'l-Dardā, 'Otmān, Tamīm al-Dārī:, 'Abdallāh b. Mas‘ūd, Sālim b. Ma'qil, ‘Ubāda b. Sāmit, Abū Aijūb, Sa'd b. 'Ubaid, Mugammi' b. Gārija, 'Ubaid b. Mu'āwija und 'Alī b. abī Tālib.
Von diesen Personen werden wir Ali, Sālim, Zaid, Ubai und Ibn Mas‘ūd als angeblichen oder wirklichen Bearbeitern schriftlicher Qorānsammlungen noch später begegnen.
Populäre Qorānkenntnis unter den ersten Chalifen.
Die Qorānkenntnis eines Durchschnittsmuslims aus der Frühzeit des Islam kann man sich nicht gering genug vorstellen. In der Literatur findet sich hierzu manch drastischer Beleg. Nach der Schlacht bei Qādisīja wies Omar den Oberfeldherrn Sa'd b. abī Waqqās an, die großen Überreste der Beute unter die Qorānkenner (hamalat al-qurān) zu verteilen.
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Als nun der berühmte Kriegsmann 'Amr b. Ma'dīkarib vor ihn kam und über seine Kenntnis der Offenbarung befragt ward, entschuldigte er sich mit den Worten: „Ich bin in Jemen zum Islam übergetreten, war aber später immer im Kriege und hatte deshalb keine Zeit, den Qorān auswendig zu lernen“. Bischr b. Rabī'a aus Tā’if, an den hierauf von Sa'd die gleiche Frage gerichtet wurde, antwortete mit der bekannten Eingangsformel bismi ’llāh al-rahmān al-rahīm ). Als in der Schlacht von Jemāma die Ansār von ihrem Anführer mit dem ehrenvollen Namen „Leute der Kuh-Sure“ angeredet wurden, beteuerte ein taijitischer Krieger, daß er von dieser Sure auch nicht einen einzigen Vers im Gedächtnis habe ). Aus b. Hālid, ein angesehener Beduine vom Stamme Taij, ward einst, da er keine Qorānstelle hersagen konnte, vom Kommissar des Chalifen Omar so geschlagen, daß er starb ). Ja noch in der Omajjadenzeit soll in Kufa ein Prediger die Kanzel bestiegen haben, der ein Zitat aus dem Diwan des 'Adī b. Zaid als Qorānvers vorbrachte ). Wenn auch diese Erzählungen nichts weiter als Anekdoten sind, so geben sie doch gewiß ein treues Bild von der Bibelfestigkeit der beduinischen Soldateska des jungen Islam. Und sonderbare Käuze wie diesen Prediger kann es noch in viel späterer Zeit gegeben haben.
3. Die schriftlichen Sammlungen und Ausgaben.
Ali als Qorānsammler.
‘Alī b. abī Tālib, der Vetter und Schwiegersohn Muhammeds, wird von verschiedenen Überlieferungen als Urheber einer Qorānsammlung genannt. Nach einer Tradition tat er dies
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noch zu Lebzeiten des Propheten und auf seinen ausdrücklichen Befehl. Wie es heißt, sammelte er den Qorān von Blättern, Seidenlappen und Zetteln, die er hinter dem Kopfkissen des Propheten vorfand, und legte dabei das Gelübde ab, nicht eher das Haus zu verlassen, bis er damit fertig wäre ). Andere verlegen den Vorgang in die Zeit unmittelbar nach dem Tode Muhammeds und lassen Ali jenes Gelübde als Vorwand benutzen, um die Huldigung für Abū Bekr hinauszuschieben ). Man sagt auch, Ali habe sich durch die Unbeständigkeit, welche er beim Tode Muhammeds an den Menschen wahrnahm, bestimmen lassen und die Niederschrift aus dem Gedächtnis in drei Tagen vollendet ). Der Verfasser des Fihrist will sogar noch ein Bruchstück des Originals gesehen haben. An alledem ist kein wahres Wort. Schon die Quellen dieser Nachrichten — schiitische Qorānkommentare und schiitisch beeinflußte sunnitische Geschichtswerke — sind verdächtig, da alles, was die Schiiten von dem obersten Heiligen ihrer Sekte erzählen, von vornherein als tendenziöse Erfindung zu gelten hat. Inhaltlich widersprechen diese Nachrichten allen sicheren Tatsachen der Geschichte. Weder die Traditionen über die Qorānsammlung Zaids noch die über die anderen vorothmanischen Sammlungen wissen etwas von einem ähnlichen Werke Alis. Dieser selbst beruft sich weder während seines Chalifates noch vorher jemals auf seine eigene Sammlung, und es ist sicher, daß die Schiiten niemals eine solche besessen haben ).
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Die Reihenfolge der Suren in der Qorānsammlung, die Ali gleich nach dem Tode Muhammeds veranstaltete, soll nach Ja'qūbī ) folgende gewesen sein: 2. 12. 29. 30. 31. 41. 51. 76. 32. 79. 81. 82. 84. 87. 98 (I. Sektion). — 3. 11. 22. 15. 33. 44. 55. 69. 70. 80. 91. 97. 99. 104. 105. 106 (II. Sektion). — 4. 16. 23. 36. 42. 56. 67. 74. 107. 111. 112. 103. 101. 85. 95. 27 (III. Sektion). — 5. 10. 19. 26. 43. 49. 50. 54. 60. 86. 90. 94. 100. 108. 109 (IV. Sektion). — 6. 17. 21. 25. 28. 40. 58. 59. 62. 63. 68. 71. 72. 77. 93. 102 (V. Sektion). — 7. 14. 18. 24. 38. 39. 45. 98. 57. 73. 75. 78. 88. 89. 92. 110 (VI. Sektion). — 8. 9. 20. 35. 37. 46. 48. 52. 53. 61. 64. 65. 83. 113. 114 (VII. Sektion).
Wenn auch einige Suren durch Zufälligkeiten der handschriftlichen Überlieferung ausgefallen sind (Sur. 1. 13. 34. 47. 107), so ist doch das Prinzip der Anordnung vollkommen durchsichtig. Dasselbe beruht auf einer eigenartigen Kombination der Reihenfolge der kanonischen Ausgabe mit den Sektionen oder Leseabschnitten (agzā, sing. guz’). Während sonst diese Sektionen Einschnitte in dem Texte nach der überlieferten Anordnung darstellen, ist hier in jeder der sieben Sektionen eine bestimmte Anzahl (16—17) ausgewählter Suren vereinigt. Ganz willkürlich ist diese Auswahl nicht, da jede Sektion regelmäßig mit einer Sure niederer Nummer (2—7) nach der offiziellen Anordnung beginnt und dann durch die verschiedenen Dekaden hindurch — mit geringfügigen Ausnahmen, die wahrscheinlich selbst wieder Textverderbnissen zur Last fallen — bis zu den höheren Nummern fortschreitet, so daß jede Sektion gewissermaßen einen Querschnitt durch den ganzen Qorān gibt.
Wenn so schon die Reihenfolge der Suren eine Abhängigkeit von der othmanischen Rezension bezeugt, so weist in noch spätere Zeit die Einteilung in Leseabschnitte, die erst im omajjadischen Zeitalter aufgekommen ist.
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Nach einer anderen, übrigens ebenso haltlosen, Nachricht ) war die Reihenfolge der sechs ersten Suren im alidischen Qorān Sur. 96. 74. 68. 73. 111. 81.
Eine andere Sammlung, die, wie es scheint, ebenfalls unmittelbar nach dem Tode Muhammeds herausgekommen sein soll, wird dem Sālim b. Ma'qil, dem Klienten des Abū Hudaifa, zugeschrieben ). Als er sich an die Arbeit machte, schwur er, wie Ali, nicht eher das Haus zu verlassen, bis er damit fertig wäre. Nachher beriet man sich darüber, wie die Sammlung zu benennen wäre. Einige schlugen Sifr vor, aber Sālim lehnte diese Bezeichnung ab, da so die Basmala der Juden laute; vorzuziehen sei Mushaf, das er in Abessinien in einer ähnlichen Bedeutung kennen gelernt habe. Demgemäß wurde beschlossen. Sujūtī teilt an derselben Stelle noch eine andere Tradition mit, nach der Sālim zu denen gehörte, die auf Befehl Abū Bekrs die Qorānsammlung in Angriff nahmen. Diese Tradition widerspricht, wie sich noch zeigen wird, allen sicheren Tatsachen der Qorāngeschichte. Sujūtī billigt ihr deshalb mit Recht nur den Wert einer Kuriosität (gharīb) zu.
4. Die (erste) Sammlung des Zaid b. Tābit.
A. Die herrschende Tradition.
Über diese Sammlung haben wir eine lange, auf Zaid selbst zurückgeführte Tradition ), die trotz ihrer weiten Verbreitung verhältnismäßig wenig Veränderungen erlitten hat ).
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Ihr Inhalt ist folgender: Während des Krieges gegen den Propheten Maslama, besonders in der entscheidenden Schlacht von Jemāma (‘Aqrabā) — im Jahre 11 oder 12 ) — waren viele Qorānleser ) gefallen. Deshalb wurde 'Omar b. al-Hattāb von der Besorgnis erfüllt, sie möchten nach und nach alle im Kampfe umkommen, so daß der größte Teil des Qorāns verloren gehen würde, und gab dem Chalifen den Rat, die Offenbarungen zu sammeln. Anfangs trug Abū Bekr Bedenken, ein Werk zu unternehmen, zu dem der Prophet keine Vollmacht gegeben hätte. Aber zuletzt willigte er ein und beauftragte mit der Ausführung den Zaid b. Tābit, einen intelligenten jungen Mann, der schon die Offenbarungen für den Propheten niedergeschrieben
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hatte ). Nach einigem Sträuben erklärte sich dieser bereit, obgleich er meinte, daß es leichter sei, einen Berg von der Stelle zu rücken, und sammelte den Qorān von Zetteln ),
Steinen ), Palmstengeln ), Schulterknochen ), Rippen ), Lederstücken ) und Brettchen ). Als letzte Quelle nennt die Tra
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dition die „Herzen der Menschen” ), d. h. mit anderen Worten, Zaid ergänzte seine archivalischen Nachforschungen durch Befragen von Personen, die Qorānstücke auswendig wußten. Schließlich, heißt es, fand er Sure 9, 129 f. bei Huzaima ) oder Abū Huzaima ) aus Medina. Die einzelnen Stücke schrieb er
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auf gleichmäßige Blätter ) und übergab sie dem Chalifen. Nach dessen Tode kamen sie an seinen Nachfolger Omar, der sie selbst wieder durch testamentarische Verfügung seiner Tochter Hafsa, der Witwe des Propheten, hinterließ.
B. Die abweichenden Traditionen.
Während Omar in der herrschenden Überlieferung nur als der intellektuelle Urheber der ersten Sammlung erscheint, ist es Abū Bekr, der in seiner Eigenschaft als regierender Chalif den Befehl zur Ausführung erteilt, den technischen Leiter ernennt und das vollendete Werk in seine Obhut nimmt. Es gibt aber noch eine andere Tradition, die, soweit der knappe Wortlaut ein Urteil zuläßt, den ersten Chalifen vollständig ausschaltet und alle eben genannten Funktionen auf die Schultern seines tatkräftigen Nachfolgers legt. Die Worte der Tradition ) „Omar ist der erste, welcher den Qorān auf Blättern sammelte“ schließen vielleicht noch den weiteren Sinn ein, daß nicht nur das Ende, sondern auch der Anfang des Unternehmens in die Regierungszeit dieses Chalifen fällt. Dagegen bezieht sich die Bemerkung, daß Omar gestorben sei, noch ehe er den Qorān gesammelt hatte ), auf die endgültige, kanonische Rezension, die auch er schon ins Auge gefaßt haben soll ).
An anderen Orten erfahren wir noch verschiedene Einzelheiten über sein Verfahren bei der ersten Sammlung. Als Ver
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anlassung gibt eine jüngere Quelle an, daß er einst auf die Frage nach einem Qorānvers die Antwort erhalten hätte, der, welcher den Vers auswendig wisse, sei in der Schlacht von Jemāma gefallen ). Weiter soll er z. B. nur solche Stellen aufgenommen haben, deren Zugehörigkeit zum Qorān durch zwei Zeugen beglaubigt war ). Auch die Traditionen über den Steinigungsvers ) scheinen von der Voraussetzung auszugehen, daß Omar bei der Sammlung des Qorāns eine Rolle gespielt hat. Wie einige Berichte ausführen ), befürchtete er, daß die Gläubigen den Vers dereinst schmerzlich vermissen würden, wenn sie ihn nicht im Buche Gottes fänden ). Nach anderen ) bekennt er frei heraus, daß der Vers von ihm nicht aufgenommen worden sei, weil er sich nicht den Vorwurf zuziehen wollte, zu der Offenbarung einen Zusatz gemacht zu haben. Nach Itqān 137 bestimmte ihn dazu der Umstand, daß nicht die üblichen zwei Zeugen aufzutreiben waren ). Allen diesen Traditionen liegt die Meinung zugrunde, daß der Steinigungsvers zur Offenbarung gehört. Ist dies jedoch irrig, wie ich früher ) nachzuweisen versucht habe, so ist es auch
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schwer zu glauben, daß ein Mann wie Omar sich so hartnäckig für seine Echtheit eingesetzt hat.
Eine dritte Überlieferungsgruppe ) ist bestrebt, den Inhalt der ersten und zweiten zu harmonisieren. Danach schrieb Zaid auf das Geheiß Abū Bekrs die Offenbarungen auf Lederstücke, Schulterknochen und Palmstengel. Nach dem Tode des Chalifen, also unter Omar, kopierte er diese Texte auf ein einziges Blatt ), über dessen Größe leider nichts verraten wird.
Schließlich ist noch einer ganz abenteuerlichen Erzählung ) zu gedenken. Nach dieser weigert sich Abū Bekr, den Qorān zu sammeln, da der Prophet es auch nicht getan habe. Da macht sich Omar ans Werk und läßt ihn auf Blätter schreiben. Dann beauftragt er 25 Koraischiten und 50 Ansarier, den Qorān abzuschreiben und dem Sa'īd b. al-‘Ās vorzulegen. Es liegt auf der Hand, daß hier die Traditionen über die erste Qorānsammlung und die kanonische Ausgabe durcheinander geworfen sind. Eine so große Zahl von Mitarbeitern wird sonst bei der ersten Sammlung niemals erwähnt. Sa'īd war bei dem Regierungsantritt Omars erst ein Kind von 11 Jahren. Für diesen heillosen Wirrwarr ist jedoch wahrscheinlich weder Ja'qūbī noch eine seiner Quellen verantwortlich, sondern eine Lücke in der vom Herausgeber benutzten Handschrift ).
Hinsichtlich der Gründe, die gerade Zaid für die Sammlung der Offenbarungen besonders geeignet erscheinen ließen, herrscht Übereinstimmung, indem alle unsere Quellen ) seine Jugendlichkeit und Intelligenz sowie seine frühere Tätigkeit als Spezialsekretär Muhammeds für die Offenbarungen ) hervor
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heben. Die erste Angabe wird von den Forschern gewöhnlich dahin verstanden, daß von dem jungen Manne größere Willfährigkeit gegenüber den Befehlen des Chalifen zu erwarten war als von einem alten, eigensinnigen Beamten. Dagegen sagen die genannten Quellen über die Fähigkeit Zaids im Auswendigwissen der Qorāntexte nichts, sonst wird dieselbe öfters erwähnt ).
Die Angaben über das Verfahren Zaids setzen stillschweigend voraus, daß er den Originalen, die er benutzte, im allgemeinen folgte. Doch zeigt seine Behandlung der letzten Verse von Sure 7 (V. 129. 130), die er ohne weiteres an eine große Sure anhängte, daß er zuweilen auch vor Willkürlichkeiten nicht zurückschreckte. Zaid oder Omar soll bei dieser Gelegenheit gesagt haben, wenn dieser Teil aus drei statt aus zwei Versen bestanden hätte, so würde er daraus eine eigene Sure gemacht haben ).
C. Kritik der Traditionen.
Wie wir gesehen haben, stehen sich bei den Muslimen drei verschiedene Ansichten über die Entstehung der ersten Qorānsammlung gegenüber. Nach der ersten Ansicht — der sog. herrschenden Tradition — vollzog sich dieselbe unter der Regierung Abū Bekrs, nach der zweiten während der Herrschaft Omars, nach der dritten erfolgte die Inangriffnahme unter Abū Bekr, die Vollendung erst unter seinem Nachfolger. Da die Entscheidung der Frage, welcher Ansicht der Vorzug gebührt, nicht auf der Hand Liegt, ist eine umständliche Untersuchung notwendig.
In der herrschenden Überlieferung sind verschiedene Züge enthalten, die teils einander, teils sonstigen geschichtlichen Nachrichten widersprechen:
1. Abū Bekr veranstaltete zwar die erste Sammlung, aber
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der intellektuelle Urheber und die eigentliche, treibende Kraft war Omar.
2. Die Veranlassung des Planes durch den Feldzug von Jemāma, der feierliche Beweggrund, das Wort Gottes vor dem Untergang zu bewahren, sowie die Beteiligung des regierenden Chalifen und des neben ihm damals mächtigsten Mannes der Theokratie, alle diese Umstände geben der Sammlung den Charakter eines für Religion und Staat grundlegenden Werkes. Deshalb war es nur in der Ordnung, daß dasselbe nach dem Tode Abū Bekrs nicht an einen seiner Verwandten kam, sondern an seinen Amtsnachfolger Omar.
3. Die Vererbung der Sammlung durch Omar an seine Tochter Hafsa zwingt dagegen zu dem Schlusse, daß sie nicht als Eigentum der Gemeinde oder des Staates, sondern als Privateigentum betrachtet wurde. Denn eine Urkunde von offiziellem oder öffentlichem Charakter hätte nicht an eine beliebige Person der Verwandtschaft vererbt werden dürfen, am wenigsten an eine Frau, auch wenn sie eine Witwe des Propheten war, sondern gehörte in die Hände des folgenden Chalifen.
Für den privaten Charakter der Sammlung spricht weiter der Umstand, daß sie nach den großen Eroberungen in keiner auswärtigen Provinz als maßgebende Rezension in Gebrauch kam, während, wie wir noch sehen werden, die Ausgaben des ‘Abdallāh b. Mas‘ūd und des Ubai b. Ka‘b diesen Erfolg hatten, obwohl ihnen nicht so hohe Protektion zur Verfügung stand.
4. Abū Bekrs kurze Regierungszeit von zwei Jahren und zwei Monaten ) ist für die in den Augen der Tradition so schwierige Sammlung der zerstreuten Texte etwas knapp. Vollends wenn der Anfang damit erst nach dem Feldzuge von Jemāma ) gemacht wurde, dürften nur etwa 15 Monate übrig bleiben.
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5. Die Verknüpfung der Sammlung mit dem Feldzug von Jemāma steht auf sehr schwachen Füßen. L. Caetani ) weist darauf hin, daß sich in den Verzeichnissen der bei ‘Aqrabā gefallenen Muslime nur wenig Persönlichkeiten befänden, denen eine größere Qorānkenntnis zugetraut werden könne, indem fast alle den Kreisen der Neubekehrten angehörten. Die Behauptung, daß viele Qorānleser in jenen Kämpfen umgekommen seien und daß sich Abū Bekr dadurch beunruhigt fühlte, könne deshalb unmöglich richtig sein. Dagegen wird sich nicht viel einwenden lassen, vorausgesetzt natürlich, daß die von Caetani ) aufgestellte, 151 Personen umfassende Verlustliste einwandfrei und unsere Kenntnis der Qorānleser jener Zeit einigermaBen erschöpfend ist.
In der Tat finden sich in den mir zugänglichen Berichten als gefallen nur zwei Personen verzeichnet, deren Qorānkenntnis ansdrücklich bezeugt wird ). Das ist 'Abdallāh b. Hafs b. Ghānim ) und Sālim, ein Klient des Abū Hudaifa ), der nach ihm die Fahne der Muhādschir trug. Auf das Vorhandensein einer größeren Zahl solcher unter den muslimischen Kämpfern deuten die Worte des Abū Hudaifa: „O Leute des Qorān, schmucket den Qorān mit Taten!“ ), falls sie authentisch sind.
Aber selbst wenn die von Caetani aus Licht gezogenen Widersprüche hinfällig würden, ließe sich trotzdem die tradi
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tionelle Verknüpfung der Sammlung mit jenem Feldzuge nicht aufrecht erhalten. Denn, wie der weitere Bericht mit dürren Worten sagt, ist ja die Sammlung fast ausschließlich aus geschriebenen Quellen entnommen worden. Jeder Zweifel daran ist ausgeschlossen, da wir wissen, daß Muhammed selbst für die Niederschrift der Offenbarungen Sorge getragen hatte ). Unter diesen Umständen konnte auch der Tod noch so vieler Qorānleser nicht die Besorgnis rechtfertigen, daß die Kenntnis der Offenbarungen des Propheten verloren ginge.
Um in diesem Wust von Widersprüchen und Irrtümern die geschichtliche Wahrheit zu ermitteln, gibt der Inhalt der Tradition weiter kein Mittel an die Hand. Deshalb müssen wir versuchen, Anhaltspunkte aus der Form der Tradition zu gewinnen und durch literarische Analyse einen älteren Kern herauszuschälen. Nun spricht die überwiegende Mehrzahl der Einzelzüge für die Wertung der Qorānsammlung als Staatsangelegenheit. Der einzige die privatrechtliche Auffassung vertretende Zug, nämlich der Übergang der Blätter von Omar in das Eigentum seiner Tochter Hafsa, ist leicht aus dem Texte auszuscheiden. Hiernach scheint es keinem Zweifel mehr unterliegen zu können, daß die andere Auffassung die ältere und zutreffende ist.
Nichtsdestoweniger muß diese an sich so einfache und einleuchtende Lösung als falsch betrachtet werden. Denn gerade der Umstand, daß sich die Sammlung nach dem Tode Omars in dem Besitze Hafsas befand, ist die sicherste Tatsache des ganzen Berichtes, weil sie durch die Nachrichten über die kanonische Qorānausgabe bestätigt wird. Denn von Othman heißt es dort, daß er die „Blätter“ bei Hafsa holen und seiner Rezension zugrunde legen ließ. Dies ist der feste Punkt, von dem aus wir uns rückwärts orientieren müssen. Obgleich die Berichte über die beiden Qorānausgaben jetzt meistens miteinander verbunden sind, so hat doch in den älteren Quellen jeder seinen besonderen Isnād und damit eine durchaus selbstständige literarische Stellung.
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Es muß deshalb zunächst dahingestellt bleiben, inwieweit das über die Vorgeschichte jener „Blätter“ Gesagte Vertrauen verdient. Nichts ist ja an sich natürlicher, als daß dieselben auf dem Wege des Erbganges an Hafsa gelangt sind. Die Sache verhält sich aber vielleicht doch anders. Wenn Hafsa des Lesens kundig war ), konnte sie eine Qorānsammlung für ihren eigenen Gebrauch erworben oder in Auftrag gegeben haben. Im anderen Falle ließe sich mehr als ein Grund anführen, der eine der vornehmsten Frauen des damaligen Medina zu einem solchen Vorgehen bestimmt haben mochte. War Omar nicht der Vorbesitzer, so fällt auch seine Urheberschaft dahin. Das Aufkommen dieses Irrtums liegt eigentlich sehr nahe. Nachdem die Gläubigen sich mit der bitteren Wahrheit abfinden mußten, daß ein so unfähiger und mißliebiger Herrscher wie Othman der Vater der kanonischen Rezension geworden war, mochte es ihnen als ein Gebot der ausgleichenden Gerechtigkeit erscheinen, dem jenen soweit überragenden Vorgänger wenigstens an der Vorarbeit zu dieser Rezension einen Anteil beizumessen.
Auf keinen Fall führt ein Weg von Omar zurück zu Abū Bekr, so daß, wenn überhaupt ein Chalife als Urheber in Betracht kommt, es nur Omar gewesen sein kann. Auf diesen weist ja auch der ausdrückliche Wortlaut einer der abweichenden Traditionen und die Hauptüberlieferung wenigstens insofern, als sie diesen Chalifen als die treibende Kraft des Unternehmens hinstellt.
Die Auffassung von dem Mitwirken Abū Bekrs ist durch die andere von der wirklichen oder angeblichen Urheberschaft seines Vorgängers bedingt. War Omar der geistesgewaltigste unter den ersten Chalifen, so hatte Abū Bekr den Vorzug, einer der ersten Gläubigen und der nächste Freund Muhammeds gewesen zu sein. Da mochte es vielen verwunderlich erscheinen, daß ein solcher Mann nicht ebenfalls bereits die Schaffung der Qorānsammlung betrieben hätte, und dieser fromme Wunsch
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sich allmählich zu einer geschichtlichen Aussage verdichten. Vielleicht hatte bei diesen Bestrebungen auch ‘Āïscha ihre Hand im Spiele, die bekannte Witwe Muhammeds und Tochter Abū Bekrs, die, der Familienpolitik nicht abhold, gewohnt war, ihrem Ehrgeiz Wahrheit und Ehre zu opfern.
Die letzte der oben genannten drei muslimischen Ansichten, welche die Sammlung auf die Regierungszeit der beiden Chalifen verteilt, hat gegen sich, daß sie eine künstliche Harmonisierung der ersten und zweiten Ansicht darstellt und überdies das erwiesenermaßen als Privatangelegenheit zu wertende Unternehmen wieder mehr zu einer Staatsaktion stempelt.
Die redigierende Tätigkeit Zaids läßt sich mit allen, hier erörterten Formen der Tradition vereinbaren und hat noch den weiteren Vorzug, nicht leicht dem Verdachte tendenziöser Erfindung einheimfallen zu können. Bei seiner Bestallung durch Othman vermißt man allerdings einen ausdrücklichen Hinweis darauf, daß er ja der Bearbeiter oder Schreiber der „Blätter“ der Hafsa sei.
Die ursächliche Verknüpfung der ersten Sammlung mit dem Feldzuge von Jemāma ist oben als ungeschichtlich erwiesen worden. Nach einer besonderen Veranlassung anderer Art zu fragen ist müßig, denn es war in den allgemeinen Zeit-umständen begründet, daß sich nach dem Tode Muhammeds früher oder später das Bedürfnis regen mußte, seine Offenbarungen in getreuer Niederschrift beisammen zu haben, waren sie doch das wertvollste Vermächtnis, das der Gottgesandte der Gemeinde der Gläubigen hinterlassen hatte. Am allerwenigsten, sollte man meinen, benötigte ein sachkundiger Mann wie Zaid der Anregung für ein Werk, dessen Nutzlichkeit und Zweckmäßigkeit so klar zutage lag.
D. Form und Inhalt der ersten Sammlung.
Das Bild, welches wir von dem Zustande der Qorānniederschriften nach dem Tode Muhammeds erhalten, ist ziemlich trostlos. Denn sie sollen nicht nur zerstreut und ungeordnet gewesen sein, sondern auch auf mindestens einem halben
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Dutzend verschiedener Stoffe gestanden haben. Es regt sich aber der Verdacht, daß die Tradition stark übertrieben hat, sei es, um das Verdienst der Sammler tüchtig herauszustreichen, oder die rührende Einfachheit der alten Zeit recht eindringlich vor Augen zu. stellen ). Daß Briefe in damaliger Zeit auf Palmstengel und Lederstücke geschrieben wurden, geht aus einigen unverfänglichen Stellen in der Prophetenbiographie des Ibn Sa'd ) mit Sicherheit hervor. Es liegt aber nahe, zu glauben, daß man sich für höhere literarische Zwecke möglichst gleichmäßiges Material zu verschaffen suchte. Dies würde hier um so eher am Platze gewesen sein, als es sich um Texte himmlischen Ursprunges handelte, und da, wie wir oben ) nachgewiesen haben, nicht nur kleinere Einzeloffenbarungen niederzuschreiben waren, sondern auch große Suren.
Der Name Suhuf ) „Blätter”, den man der Sammlung Zaids beilegt, weist einerseits wohl darauf hin, daß es sich um gleiches Material und Format handelt. Hierfür kommt deshalb von den verschiedenen Beschreibstoffen, auf denen sich angeblich der literarische Nachlaß des Propheten befand, nur Leder in Betracht. Ob Pergament schon damals in Arabien gebräuchlich war, kann ich nicht feststellen. Andererseits scheint die Bezeichnung „Blätter” andeuten zu wollen, daß
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die einzelnen Teile der Sammlung noch nicht so fest georduet ) waren wie die spätere kanonische Ausgabe, die den Namen Mushaf ) „Buch“ führt.
Diese Auffassung ist aber unhaltbar. Mögen jene Suhuf immerhin lose Blätter gewesen sein, so mußte doch der auf dem einzelnen Blatte stehende Text eine bestimmte Anordnung haben. Das schloß schon eine nicht unerhebliche Einschränkung der Willkür in sich. Denn ein solches Blatt umfaßte mindestens zwei Seiten, wenn es gefaltet war, sogar vier Seiten. Die feste Textordnung konnte sich weiter auf mehrere Doppelblätter hin erstrecken und zwar auf so viele, wie zu einer „Lage“ vereinigt waren. Eine Lage besteht aber in den alten griechischen Bibelhandschriften gewöhnlich aus drei bis vier ), in den von
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mir untersuchten großen kufischen Pergament-Kodizes aus drei bis fünf Doppelblättern, also aus zwölf bis zwanzig Seiten. Andere Anhaltspunkte für die richtige Aufeinanderfolge des Textes ergaben sich ferner, wenn ein Vers am Ende eines Blattes oder einer Blätterlage abbrach, oder wenn ein Blatt zwar mit einem neuen Verse begann, aber die Verbindung nach rückwärts durch den Inhalt mit Sicherheit hergestellt wurde. Ernstliche Zweifel waren eigentlich nur dann denkbar, wenn eine Blätterlage mit einer neuen Sure begann. Aber dieser Fall konnte nur sehr selten eintreten, um so seltener, je umfangreicher die Blätterlage war, bei fünffacher Blätterlage wahrscheinlich kein einziges Mal ). Wie man sieht, läßt sich auch ohne äußere Merkzeichen wie Blätterlagen- oder Seitenzählung sowie ohne Kustoden eine (verhältnismäßig) außerordentlich große Genauigkeit der Anordnung erzielen ).
Unter diesen Umständen dürfte die Bestimmtheit der Reihenfolge der Suren auf den „Blättern“ der ersten Qorānsammlung hinter der der späteren Ausgaben nicht viel zurückgestanden haben. Es ist deshalb schwer zu begreifen, warum dieser Sammlung in der Regel nicht der Name Mushaf oder Kodex zugebilligt wird. Das Zusammenheften der Blätter kann nicht entscheidend sein, da wir nicht einmal von den othmanischen Musterhandschriften wissen, ob sie geheftet waren, und da es im islamischen Orient noch bis zum heutigen Tage vielfach
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üblich ist, auch gedruckte Werke nur in losen Bogen aufzubewahren ).
Den Fragen nach Inhalt und Vollständigkeit der ersten Sammlung, nach ihrer Form, der Einteilung in Suren und deren etwaiger Abgrenzung durch Basmala, Siglen oder andere Merkzeichen, können wir erst nähertreten, wenn die Entstehung der anderen vorothmanischen Ausgaben sowie der kanonischen Rezension untersucht ist.
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